Offener Brief an den Parteivorstand

Liebe Janine, lieber Martin,
liebe Genoss:innen,

wir schreiben euch, weil wir einfach nicht mehr weiter wissen und uns die Kraft ausgeht, weiter für eine solidarische, gerechte und bessere Welt zu kämpfen. Wir sind ein kleiner Kreisverband im ländlichen Raum in NRW. Wir arbeiten für diese Partei alle ehrenamtlich, nehmen uns für Wahlkämpfe und Aktionen Urlaub und stecken sehr viel Zeit und Herzblut in diese Partei. Zeit, die uns für unsere Familien, Freunde oder Hobbys fehlt. Und doch leisten wir das leidenschaftlich gerne, weil wir alle an dem Menschheitstraum festhalten, dass eine bessere Welt möglich ist.

Unsere Partei erlebte zuletzt sehr schwierige Zeiten. Verlorene Wahlen mit enttäuschenden Ergebnissen, offene Vorwürfe über Sexismus und sexueller Übergriffe in den eigenen Reihen und die damit begleitende Art und Weise der Aufklärung sowie ein seit Jahren offen ausgetragener Richtungsstreit, um nur ein paar Themen zu nennen. All dies ging mit Sicherheit an keinem Mitglied spurlos vorbei.

Der vergangene Parteitag in Erfurt brachte aber so manche Hoffnung auf Besserung mit sich – nicht bei allen Themen, aber immerhin. Der Parteitag brachte auch in vielen Punkten inhaltliche Klärung. Wir bezogen klar Stellung zum verbrecherischen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Wir erklärten unsere Solidarität mit den Menschen in der Ukraine. Wir prüften unsere Haltung zu Russland und sprachen uns für ein praktisches Eintreten gegen den Aggressor, etwa durch zielgerichtete Sanktionen, aus. Diese müssten sich „gegen Putins Machtapparat und den militärisch-industriellen Komplex und damit gegen die Fähigkeit zur Kriegsführung richten.“

Eine Zäsur.

 

Nach dem vergangenen Parteitag im Juni schien es endlich wieder vorwärts zu gehen. Auch wir haben hier vor Ort leidenschaftlich über Wochen an einer regionalen Kampagne zum „Heißen Herbst“ geplant, organisiert und vorbereitet. Mit Stolz und Freunde konnten wir erste erfolgreiche Proteste in Leipzig, Hildesheim oder Frankfurt/Oder aus der Ferne verfolgen. Mit unseren Forderungen nach gerechten Löhnen, der Fortführung des 9-Euro-Tickets, einer Übergewinnsteuer und einem Gaspreisdeckel machten wir uns bereit, ebenfalls einen lautstarken Protest auf die Straße zu tragen.

Und dann kam der 8. September 2022. Es wiederholte sich, was sich in den vergangenen Jahren leider viel zu oft ereignet hatte.

Es ist zermürbend, wenn wir, statt unseren, für viele Menschen so notwendigen Protest, auf die Straße zu bringen, wieder mit der uns viel zu vertrauten Situation konfrontiert sehen, wegen den Äußerungen einer wortgewaltigen Protagonistin unserer Partei, uns erklären und ihr lautstark widersprechen zu müssen. Das beraubte uns der Kapazitäten, unsere Kampagne entschieden voranzutreiben. Nicht zum ersten Mal.

Wir alle, ob in Berlin oder an der Basis, verlieren doch jedwede Glaubwürdigkeit, wenn wir uns alle paar Tage mit „das sind nicht die Positionen der Partei“ oder „die Beschlusslage ist eine andere“ zu erklären versuchen. Wie sollen wir denn Menschen und Bündnispartner:innen, die uns zurecht unentwegt ansprechen, glaubhaft machen, dass dem auch so ist. Langsam können wir uns doch selber nicht mehr ernst nehmen.

Oder um es mit Katharinas, Henriettes oder Jules Worte zu sagen: Es reicht!

 

Nach eurer Klausurtagung am vergangenen Wochenende habt ihr erneut die Einheit der Partei beschworen und aktive Trennungsvorhaben kritisiert. Jedoch ohne sie klar beim Namen zu benennen. Auch wir haben vernommen, dass ein Teil dieser Partei gerade einen Prozess der Abspaltung anstrebt.
Doch ist der Bruch nicht schon längst erfolgt? Wenn ein gewisser Teil dieser Partei die Beschlusslage konsequent ignoriert, wenn dieser während des noch laufenden Parteitages diese umzudeuten versucht und die Partei mit Auftritten und Wortmeldungen aktiv zu schaden sucht? Wir schauen wieder nur zu.

Diese Art der Lethargie hat einen Preis. Und diesen Preis zahlt zum einem die Partei. Den zahlen die Genoss:innen, denen inzwischen die Kraft fehlt, sich weiter den Beschuss aus den eigenen Reihen zu erwehren, die es einfach Leid sind, sich pausenlos zu rechtfertigen.

Doch an erster Stelle zahlen ihn alle die Menschen, die unter der Verarmungspolitik der Ampel-Regierung leiden und jetzt auf unsere Unterstützung angewiesen sind. Das sind die Menschen, für die wir eigentlich Politik machen. Doch im Moment fahren wir sehenden Auges vor die Wand und lassen sie einfach im Stich.
Eine klare Haltung ist jetzt das Mindeste, um DIE LINKE als die soziale Kraft erkennbar zu machen, die die Menschen in diesem Land jetzt dringend brauchen.

 

Wie eingangs beschrieben: Uns geht die Puste aus. Es bedarf jetzt eines klaren Signals, dass der Spuk ein Ende haben muss. Und uns ist leider auch bewusst, dass wenn sich nicht zeitnah etwas ändert, wir eben auch nicht weiter machen können und wollen.

Wir sind es Leid, dass uns in erschreckender Regelmäßigkeit Austrittserklärungen von eigentlich aktiven Genoss:innen auf dem Tisch liegen. Genoss:innen, die sich in Wahlkämpfen u.a. als Kandidat:innen, an Infoständen, beim Haustürwahlkampf oder als Vertreter:innen unserer Partei bei Podiumsdiskussionen in Schulen engagiert haben und stets unsere beschlossene Programmatik glaubwürdig vertreten haben. Sie traten und treten aus, weil sie letztlich an dieser Partei verzweifelt sind.

Darum schreiben wir euch. Weil wir uns einfach nicht mehr zu helfen wissen.

Mit Freude, Enthusiasmus und Überzeugung haben wir dieser Partei viele Jahre geholfen, jetzt brauchen wir eure Hilfe. Es geht so nicht weiter.

 

Mit solidarischen Grüßen

Jan Köstering (Kreissprecher)
Heidi Mehlhorn (Kreissprecherin)
Uta Albrecht (Kreisschatzmeisterin)
Marko Wegner (Kreisgeschäftsführer)
Barbara Sprenkels-Bräuer (Beisitzerin)
Gerhild Pett (Beisitzerin)
Tom Peetz (Jugendpolitischer Sprecher)
Berenike Krampe (Beisitzerin)
Matthias Lammerich (Beisitzer)

 

Gummersbach, 19. September 2022